Im Lockdown ist eine gesellschaftliche Gruppe nahezu in Vergessenheit geraten, die man zu Beginn allerdings sehr wohl im Focus hatte. Das sind die jungen Alten, also der Menschen, die in der Regel zwischen 60 und 70 Jahre alt sind. Es wird Zeit, genau diese Untergruppe der älteren Menschen näher zu beleuchten.
Ältere Menschen im dritten und vierten Lebensabschnitt möchte man besonders schützen. Seniorinnen und Senioren im Alter zwischen 60 und dem Lebensende sind keine einheitliche Gruppe. Diese Lebensphase, die bis zu 40 Lebensjahre des menschlichen Alterungsprozesses umspannen kann, muss genau so differenziert betrachtet werden, wie es für die Entwicklung von Kindern zwischen ihrer Geburt und dem Erwachsenwerden eine Selbstverständlichkeit ist.
Menschen 60+ werden aufgrund ihres Alters und ihrer altersgemäßen, chronischen Erkrankungen insgesamt als eine Corona-Hochrisiko-Gruppe eingestuft. Dennoch bilden sie kein einheitliches Kluster. Entsprechend des fortschreitenden Alterungsprozesses werden sie in die jungen Alten, die alten Alten, die Hochbetagten und die Pflegebedürftigen unterteilt. Soziologen bezeichnen diese Hauptkluster mit Go-Go‘s, Slow-Go‘s und No-Go‘s. Das kalendarische Alter der Menschen ist bei dieser Einteilung nicht maßgeblich. Das so genannte „Geriatrische Erscheinungsbild“, das den Fortschritt des individuellen Alterungsprozesses jedes einzelnen Menschen beschreibt, gilt bei dieser Einteilung als das maßgebliche Einteilungskriterium. Ältere Bürgerinnen und Bürger haben eigenständige Bedürfnisse und Rechte und können diese sehr wohl eigenverantwortlich artikulieren und vertreten, sowie selbstbestimmt und unabhängig ihr Leben bestreiten.
Gerade deshalb gehören sie zu der Gruppe in unserer Gesellschaft, mit der man besonders sprechen sollte. Zu Beginn der Pandemie wurde vielfach über sie, aber nicht mit ihnen gesprochen wurde. Und das, obwohl die Go-Go‘s durchaus in der Lage sind, eigenverantwortlich zu handeln.
Die jungen Alten sind hierzulande im Chaos der öffentlichen Wahrnehmung in den letzten Wochen komplett untergegangen, weil sie vielfach mit den Hochbetagten und den pflegebedürftigen Menschen zusammen gesehen werden. Mit den Menschen in diesen Lebensphasen haben sie allerdings genauso viel gemeinsam, wie Kindergartenkinder mit Pubertierenden.
Kaum dargestellt wird, welchen unglaublichen Verzicht es für die jungen Alten bedeutet hat, per Vollbremsung urplötzlich von jetzt auf gleich von ihren Kindern und Enkelkindern, allen Freunden und Vertrauten getrennt zu sein, seit Wochen nicht an ihre Lieblingsorte zu dürfen, nicht zu ihren Enkeln, die sie bis dahin regelmäßig betreuten, auch nicht zum Treffen im Familienkreis oder mit Gleichgesinnten zum Sport, zum Restaurant- oder zum Theaterbesuch.
Vor der Corona-Krise leisteten Go-Go‘s einen unentbehrlichen Beitrag dazu, ihre Enkelkinder in genau den Zeiten zu betreuen, in denen deren Mütter und Väter dem Broterwerb nachgingen und ihre Sprösslinge nicht in öffentlichen Einrichtungen unterbringen konnten. Erst nach und nach zeigt sich die System-Relevanz des großelterlichen Betreuungsaufwands sowie das Fehlen ihrer bis dato tatkräftigen Unterstützung in der alltäglichen Lebensführung berufstätiger Eltern.
Jetzt sind Familien angewiesen auf den Einfallsreichtum, mit dem dieses Land der Krise trotzt. Im Zweifel – das wissen die jungen Alter nun – würde man sie auch ein halbes Jahr oder länger in der Abschottung von ihren Kindern und Enkelkindern belassen, ohne Perspektive für sie als Bezugspersonen für ihre Enkel, ohne Perspektive für Ihre Mütter und Väter, die sich nach der kompletten staatlich verordnete Distanzierung von den Unterstützungen durch die jungen Alten zwischen Homeoffice, Haushalt und Homeschooling aufreiben!
Während eine Isolierung der gesamten Risikogruppe der Menschen 60+ immer wieder erwogen und als unethisch verworfen wurde, nahm man die soziale Distanzierung der Untergruppe der jungen Alten einfach ohne weitere Diskussionen hin. Der Eingriff in die Lebenswelt der Go-Go‘s war massiv! Ihre Besonderheiten werden schlichtweg aus der Öffentlichkeit verbannt, indem man alle Menschen 60+ über einen Kamm scherte und sie nicht darstellte als das, was sie wirklich sind, Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, unterschiedlich gut erhaltenen Alltagsfähigkeiten und unterschiedlicher System-Relevanz. Auf Dauer ist dadurch die körperliche, psychische und soziale Unversehrtheit insbesondere der jungen Alten gefährdet. Wer diese Perspektive komplett ausblendet, missachtet ihre Würde.
Bildquellen:
ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Bildservice